Eine ressourcenorientierte Psychotherapie mit dem minime Ressourcenprotokoll
Welche positiven Eigenschaften bringt jemand mit in die Therapie? Was macht eine Person gern? Welche Interessen hat sie? Welche Stärken und Qualitäten sind einer Person möglicherweise nicht bewusst? Und vor allem: was kann ich als Therapeut davon für die Behandlung meiner Patient:innen nutzen?
Ressourcen spielen in der Psychotherapie eine zentrale Rolle. Die meisten Bücher zur Fallkonzeption und Behandlungsplanung räumen Ressourcen neben störungsspezifischen Faktoren einen hohen Stellenwert ein (Bockwyt, 2020; Brunner, 2019; Knappe & Härtling, 2017; Zarbock & Roediger, 2014). Verlage bieten zahlreiche therapeutische Materialien zum Thema Ressourcenaktierung, sowohl für Kinder und Jugendliche, als auch für Erwachsene an.
Doch was verstehen wir eigentlich genau unter psychologischen Ressourcen? Was bewirken sie im Menschen? Warum ist Ressourcenaktivierung in der Psychotherapie so wichtig? Dienen Ressourcen nur der "Auflockerung" einer vorwiegend problembezogenen Therapie? Wie kann ich meine Patient:innen dabei unterstützen, auch außerhalb der Therapiestunde eigene Ressourcen wahrzunehmen und bewusst im Alltag einzusetzen?
In ihrem Buch “Ressourcenaktiverung” aus der Therapie-Tools-Reihe des Beltz-Verlages beschreibt die Autorin Tina Gruber Ressourcen als “Potenziale eines Menschen". Sie meint damit “Fähigkeiten, Kompetenzen, positive Erinnerungen, Fertigkeiten, Kenntnisse, Geschicke, Einstellungen, Erfahrungen, Talente, Neigungen und Stärken, die oftmals gar nicht bewusst sind”. Ressourcen versteht sie als Schutzfaktoren, die wir zur Verfügung haben, um Belastungen zu ertragen, Lebensaufgaben zu bewältigen und Ziele zu erreichen (Gruber, 2020).
Die Autorinnen Uta Deppe-Schmitz und Miriam Deubner-Böhme definieren in ihrem Buch “Auf die Ressourcen kommt es an” (Hogrefe) folgende drei Kriterien zu Beschreibung von Ressourcen (Deppe-Schmitz & Deubner-Böhme, 2016):
Diese Definitionen verdeutlichen, dass Fähigkeiten, Talente oder Erfahrungen erst durch die individuelle Perspektive einer Person zu einer wirksamen Ressource werden können. Und zwar dann, wenn sie subjektiv als hilfreich angesehen wird und gleichzeitig den Zweck erfüllt, angeborene Grundbedürfnisse zu befriedigen. Kurzfristig wirksame maladaptive Bewältigungsversuche (bspw. Alkoholkonsum, Selbstverletzung) würden demnach einer Befriedigung von Grundbedürfnissen langfristig entgegenwirken und somit nicht in diese Kategorie fallen (Deppe-Schmitz & Deubner-Böhme, 2016).
Während beispielsweise also Gruppensport (Volleyball, Handball, Fußball) für eine Person eine ausgeprägte Ressource darstellen kann (bspw. durch Erfüllung der Grundbedürfnisse nach Selbstwerterhöhung, Bindung, Autonomie), kann dies für eine andere Person eine qualvolle Erfahrung bedeuten, einhergehend mit Bewertungsängsten, Unwohlsein, sowie Selbstwertverlust.
Was bewirken Ressourcen?
Individuelle Ressourcen ermöglichen, den oben aufgeführten Kriterien folgend, bedürfnisbefriedigende Erfahrungen und führen dadurch zu einem besseren Wohlbefinden. Deppe-Schmitz und Deubner-Böhme schreiben hierzu: “Jemand, der über Ressourcen verfügt, kann Spannungen im Alltag besser ausgleichen.” Zudem schreiben sie: “Je breiter unsere Palette an Ressourcen ist, desto flexibler können wir mit Problemsituationen umgehen.”. Aus verhaltenstherapeutischer Perspektive bedeutet dies: Personen mit mehr Ressourcen haben mehr Kapazitäten, um in Problemsituationen eine langfristig hilfreiche Handlungsoption zu entwickeln.
"Ressourcenaktivierung bereitet den Nährboden für Veränderungen!” (Deppe-Schmitz & Deubner-Böhme, 2016).
In aktuellen Modellen zur Entwicklung von psychischen Störungen gehen wir davon aus, dass anhaltende Belastungen in der Kindheit (bspw. familiäre Konflikte) zu einer chronischen Frustration von angeborenen psychologischen Bedürfnissen führen können (Bspw. Bedürfnis nach Bindung, Selbstwert, Autonomie). Diese Grundbedürfnisfrustrationen können je Lebenssituation zu einer erhöhten Anfälligkeit (Vulnerabiliät) für die Ausprägung einer psychischen Symptomatik führen (Bockwyt, 2020; Brunner, 2019; Knappe & Härtling, 2017; Zarbock & Roediger, 2014). Ressourcen werden dabei als Moderatorvariablen (Zarbock & Roediger, 2014), Schutzfaktoren (Knappe & Härtling, 2017), als "bereits erfolgreich praktizierte Selbsthilfestrategien" (Brunner, 2019) oder sogar als "Merkmale, die halfen, Belastungen erst gar nicht entstehen zu lassen [...]" gesehen (Bockwyt, 2020).
Etwas anders formuliert lassen sich Ressourcen in ihrer Funktion, unsere Grundbedürfnisse zu erfüllen, als sehr individuelle Selbstfürsorge- oder auch Überlebensstrategien betrachten. Werden diese Überlebensstrategien nicht systematisch störungsübergreifend in der Therapie berücksichtigt, verschenken wir wertvolle diagnostische Informationen, wir erschweren uns den Aufbau einer therapeutischen Beziehung und therapieren möglicherweise am Ziel vorbei.
Ressourcen sind zudem sehr dynamisch und veränderbar. Eine Person die viele Ressourcen besitzt kann um so leichter neue Ressourcen aufbauen oder hinzugewinnen als eine Person mit wenigen Ressourcen. Herausforderungen im Alltag, weitreichende Veränderungen (familiär, beruflich, räumlich) und Stress können dazu führen, dass wir vormals wirksame Ressourcen nicht mehr erinnern, oder uns nicht mehr zur Verfügung stehen. Menschen die eine Therapie aufsuchen, befinden sich oft in einer “Abwärtsspirale an Ressourcenverlusten” (Deppe-Schmitz & Deubner-Böhme, 2016). Daher bietet das Wahrnehmen und Aktivieren von Ressourcen zu Beginn einer Therapiestunde vielen Patient:innen also eine erste positive (validierende) Erfahrung (Bockwyt, 2020; Brunner, 2019; Deppe-Schmitz & Deubner-Böhme, 2016; Knappe & Härtling, 2017).
Darüber hinaus lassen sich therapeutisch relevante Veränderungen im Erleben und Verhalten leichter initiieren und begleiten, wenn wir an positive Erfahrungen und bisherige Erfolgen der Patient:innen anknüpfen. Es macht einen großen Unterschied, ob wir therapeutische Interventionen und Strategien (zum Beispiel Befürchtungen in einem Verhaltensexperiment zu überprüfen) rein störungsfokussiert herleiten ("Du musst dich deiner Angst aussetzen, damit sie weniger wird"), oder eben in das bisherige Strategien-Repertoire unserer Patient:innen einbetten ("Lass uns schauen was mit deiner Angst passiert, wenn du genauso mutig bist wie in Situation XYZ").
Eine ressourcenorientierte Psychotherapie ist also nicht als "Zusatz" zu störungsspezifischen verhaltenstherapeutischen Ansätzen zu verstehen: "Ressourcenaktivierung bereitet den Nährboden für Veränderungen!” (Deppe-Schmitz & Deubner-Böhme, 2016).
Wie kann ich meine Patient:innen dabei unterstützen eigene Ressourcen wahrzunehmen und Ressourcenerlebnisse zu erfahren?
Neben einer ressourcenorientierten bzw. bedürfnisorientierten Grundhaltung und Beziehungsgestaltung habe ich die Möglichkeit inhaltlich zu arbeiten. Ich kann meine Patient:innen in eine Expert:innenrolle versetzen und sie zu ihren Vorlieben, Interessen oder auch zum letzten Urlaub befragen. Ich habe aber auch die Möglichkeit geplante Übungen ergänzend in die Therapie einfließen. Siehe hierzu Gruber (2020) und Deppe-Schmitz & Deubner-Böhme (2016).
Deppe-Schmitz und Deubner-Böhme beschreiben drei Ziele der ressoucenorientierten Arbeit:
Das Erarbeiten einer potenziellen Ressource in der Therapie (bspw. auf einem Flipchart) wäre demnach nur ein erster Schritt in der ressourcenorientierten Psychotherapie. Ein weiterer unabdingbarer Schritt ist es, Patient:innen dabei zu Unterstützen die Ressource im Alltag tatsächlich als bedürfnisbefriedigend zu erleben. In einem dritten Schritt geht es darum eine Ressource bei alltäglichen Herausforderungen präventiv, kompensatorisch oder ergänzend bewusst einzusetzen.
Es wäre also hilfreich die therapeutischen Rahmenbedingungen ergänzend so zu organisieren, dass A: potenzielle Ressourcen dauerhaft im Blick behalten werden, B: Ressourcen im Alltag zwischen den Sitzungen leicht abrufbar sind, und C: bedürfnisbefriedigende Erfahrungen registriert, besprochen und therapeutisch verstärkt werden können.
Wie lassen sich Ressourcen systematisch in die Therapie integrieren?
Die Autorinnen schlagen vor, für jede behandelte Person eine eigene Ressourcenkarte anzufertigen und in der Patient:innenakte an vorderster Stelle zu positionieren. Auf dieser Ressourcenkarte lassen sich während des gesamten Behandlungszeitraumes neue Ressourcen dokumentieren. Zusätzlich wird auf der Karte vermerkt, ob sich die jeweilige Ressource in der Therapie oder im Alltag zwischen den Sitzungen aktivieren lässt. Lt. Autorinnen würden mittels Ressourcenkarte sowohl Patient, als auch Therapeut mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Ressourcen in die Therapie integrieren. Die Autorinnen nennen dieses Prinzip Ressourcenpriming.
Ressourcenpriming mit der Ressourcenkarte alle Ressourcen immer im Blick
Wie ergänzen wir mit minime die ressourcenorientierte Arbeit
minime bietet eine ergänzende Unterstützung für eine ressourcenorientierte therapeutische Arbeit auf mehreren Ebenen:
Auf dem minime Ressourcenprotokoll (Abb. 1 links) lassen sich zu jeder Zeit, an jedem Ort unendlich viele Ressourcen Dokumentieren und abrufen. Auf jeder Ressourcenkarte (Abb.1 Mitte) können anhand von Schlagworten Bedürfnisse erfasst werden, welche durch eine Ressource vermutlich erfüllt werden. Hier können Patient:innen aus einer Auswahl an Vorschlägen wählen, oder auch eigene Worte verwenden. Hierdurch soll die Zweckmäßigkeit einer Ressource verdeutlicht werden. Die Schlagworte lassen sich jederzeit anpassen und ändern. Mit einer Suchfunktion (Abb1. links) lassen sich im Nachhinein Ressourcen für entsprechende Bedürfnisse darstellen.
Eine Ressource gilt jedoch erst dann als Ressource, wenn sie situationsübergreifend eingesetzt wird und Grundbedürfnisse zu erfüllt. Aus diesem Grund lassen sich zu jeder Ressource, die im minime Ressourcenprotokoll dokumentiert wurde, spezifische Ressourcenerlebnisse festhalten. Patientinnen haben dadurch die Möglichkeit zu dokumentieren, in welcher Situation sie eine Ressource realisieren konnten, was sich dadurch für sie geändert hat und inwiefern die Ressource Bedürfnisse tatsächlich erfüllt hat. Ein Ressourcenerlebnis wird in der chronologischen Verlaufsansicht für beide Seiten nachvollziehbar abgelegt (Abb.2). Dadurch habe ich als Therapeut die Möglichkeit auf einen Blick zu sehen, wenn Ressourcenerlebnisse dokumentiert wurden.
Damit die Ressourcen vor, während und nach einer Therapiestunde stets im Blick bleiben (s. Ressourcenpriming), haben wir das Ressourcenprotokoll in der chronologischen Verlaufsansicht und im Wochenprotokoll an vorderster Stelle positioniert.